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Münchner Medientage 2020 - digital

Verantwortlicher Autor: Gerhard Bachleitner München, 04.11.2020, 13:21 Uhr
Kommentar: +++ Internet und Technik +++ Bericht 9589x gelesen
Eine der von Deloitte erwogenen Zukünfte für Bewegtbild: die früher sog. Datenbrille.
Eine der von Deloitte erwogenen Zukünfte für Bewegtbild: die früher sog. Datenbrille.  Bild: Referent. Das Bild wurde hier grafisch leicht modifiziert.

München [ENA] Daß die Münchner Medientage heuer nicht in der gewohnten Form stattfinden könnten, war seit längerem klar. Die Entscheidung für eine ausschließlich mediale Form wurde durch eine recht gut funktionierende Kongreßarchitektur bestätigt, die an manchen Stellen aber noch verbesserungswürdig ist.

Deloitte, nach der Zukunft des Bewegtbildmarktes befragt, antwortete sibyllinisch: The screen is dead. Long live the screen! Das sollte heißen: egal, welcher und wieviele Bildschirme, es wird immer eine Fläche zum Ausspielen von Bewegtbild geben. Die Beratungsfirma, hier personifiziert durch Klaus Böhm, wollte sich natürlich nicht festlegen, sondern skizzierte vier mögliche Zukünfte. Die technisch interessanteste war die Vision, eine universelle Datenbrille werde als "persönlicher Assistent" alle wesentlichen digitalen Interaktionen abbilden.

Anthropologisch ist dies aber höchst unwahrscheinlich, weil Nichtbrillenträger ungern eine Brille werden tragen wollen - wollten sie schon beim 3-D-Fernsehen nicht - und durch den Distanzverlust der mediale Inhalt dem Rezipienten zu dicht auf den Leib rücken würde. Auch der Verzicht auf die zehn Finger als Eingabeinstrument wäre ein ergonomisches Hindernis. *

Der Digitalisierungsbericht

Der jährliche Digitalisierungsbericht der Landesmedienanstalten bildete die mediale Gegenwart ab und erlaubte strategierelevante Extrapolationen. Daß der Smart-TV-, HD- und UHD-Anteil an der Fernsehnutzung weiter zunimmt, war keine Überraschung. Daß es aber auch noch einen (vielleicht innovationsresistenten) relevanten Anteil an SD-Nutzung gibt, nötigt jetzt, neben anderen Gründen, die öffentlich-rechtlichen Sender, die zum Jahreswechsel geplante SD-Abschaltung auf Satellit aufzuschieben. Im Visier ist nun das Jahr 2024.

. Diese Strategieänderung läßt sich aus zwei entgegengesetzten Perspektiven kommentieren, als Aufschub von Innovation - wegen des Junktims von SD-Abschaltung und UHD-Einführung - oder als verbraucherfreundliche Empfangs- und Bestandsgarantie. Der stetig wachsende Anteil an sog. OTT-Inhalten, also internetbasierten Videoströmen, verführt die Gerätehersteller zu einer tiefgreifenden Transformation - um nicht zu sagen Deformation - von Startbildschirm und Benutzerführung.

In der Folge kommt bei den Öffentlich-Rechtlich die Sorge um die Auffindbarkeit auf - was auf kuriose Weise an die Kämpfe in den 90er Jahren bei den Anfängen des Digitalfernsehens erinnert, als es nur Settop-Boxen der kommerziellen Konkurrenz gab. Heute wird das Problem als Benutzeroberflächenregulierung bezeichnet und auch schon rechtlich angegangen. In der Detailbetrachtung stellt der Digitalisierungsbericht nämlich fest, daß sehr viele Nutzer von der oft gebotenen Konfigurationsmöglichkeit des Startbildschirms keinen Gebrauch machen, sondern sich mit der in aller Regel nicht neutralen Optik des Herstellers (der ja üblicherweise Kooperationen mit Streamingdiensten o.ä. eingeht) zufrieden gibt.

Es ist im Grunde der gleiche Präferenzkonflikt wie bei den Google-Suchergebnissen. Priorisierung kann man sich kaufen. Auch diesen Streitpunkt könnte man aus entgegengesetzten Perspektiven kommentieren. Man kann die Konfigurierbarkeit für zureichend und den Eigenwillen des Herstellers für hinnehmbar halten. Man kann aber auch die überkommene Zweckbestimmung des Fernsehers zum Fernsehen verteidigen und dessen Protagonisten sozusagen ehrenvolle Reverenz erweisen. Eine Kompromißposition könnte sein, daß der Fernseher mit dem zuletzt benutzten Eingangs- oder Wiedergabekanal startet. Dann blieben die "Linearisten" von unerwünschten OTT-Inhalten und "Nonlinearisten" von klassischem Fernsehen verschont.

Schließlich steht noch die Abschaffung einer sehr deutschen Besonderheit im Raum, des kollektivistisch gedachten Nebenkosten-Privilegs beim Kabelfernsehen. Dies ist eine Form von Zwangsgebühr zweiter Ordnung. Nachdem die Zwangsgebühr erster Ordnung, der GEZ-Beitrag, durch die Umwandlung in eine haushaltsbezogene Abgabe vor der Abwahl geschützt wurde, besteht die Zwangsgebühr zweiter Ordnung, der Einzug der Kabelgebühr durch die Wohnungswirtschaft, fort und hindert den Nutzer am Umstieg auf einen anderen Verbreitungsweg.

Daß hier tatsächlich Zwang ausgeübt wird, gab Thomas Fuchs (Medienanstalt Hamburg/Schleswig-Holstein) bei der Kommentierung des Digitalisierungsberichtes indirekt zu, indem er die Privilegabschaffung bedauerte, weil sich diese Nutzer dann vom linearen Fernsehen abwenden könnten. * * * * *

Die "Streaming-Revolution"

Die Abwendung vom linearen Fernsehen ist denn auch die wachsende Sorge der linearen Sender. Streaming gilt als Zukunft des Fernsehens. Im Gespräch mit dem Fernseh-Urgestein Gerhard Zeiler, nunmehr bei Warner, war von "Streaming-Revolution" die Rede. Hier spielt aber sicherlich der gänzlich anders konfigurierte amerikanische Markt eine Rolle. Die danach befragten einheimischen Protagonisten, Sky, RTL (mit TV-Now), Pro7 (mit Joyn) und die ARD mit ihrer Mediathek hörten sich keineswegs entmutigt an, sondern waren dabei, ihr jeweiliges Stammgeschäft sinnvoll und nachfrageentsprechend um nichtlineare Anteile zu erweitern.

Der Blick auf die Nutzungsanteile, wie sie der Digitalisierungsbericht ausweist, zeigt die realistischen Proportionen. Wenn man nur Live-Streaming in den Blick nimmt und den marginalen Anteil sieht, kann von "Revolution" keine Rede sein. Berücksichtigt man allerdings auch "klassisches" Video-on-demand (was früher der DVD-Handel war), dann hat man schon einen erheblichen Nutzungsanteil vor sich. Im selben Maße werden die Anbieter ihre Ausspielwege entwickeln.

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